Mit Trommeln und Trompeten
Im Interimsmanagement gehe ich mit einer ganz anderen Haltung auf meine KundInnen zu als im Coaching. Im Einen erkenne ich rasch Muster und Strukturen, verbinde rasch Neues mit Bekanntem und sage: „Aha, alles klar, hier starten wir, dort wollen wir hin, los geht’s. Im Anderen bin ich hilfreich, wenn ich mit wertschätzender Beobachtung und Nichtwissen lösungsfokussierte Fragen stelle und zuhöre. In unserem Osterurlaub versuchte ich erfolglos ersteren Zugang und trainierte intensiv zweiteren. Für das, was wir in dieser Woche erleben durften, gab es in unseren Köpfen keine beschrifteten Schubladen, keine Gebrauchsanweisung, nur unsere Augen und Ohren.
Wenn man spontan eine Reise bucht
Wir, zwei befreundete Familien hatten nichtsahnend die Karwoche für eine Reise nach Andalusien ausgewählt. Nachdem wir Flug und Quartiere gebucht hatten, lasen wir über die Osterprozessionen, die in allen Städten an allen Tagen der Karwoche, die Semana Santa, also „heilige Woche“ heißt, stattfinden würden. Der Vermieter des Appartments in der Nähe der Kathedrale von Sevilla warnte uns unter vielfacher Verwendung von Ausrufungszeichen vor Straßensperren und überfülltem Stadtzentrum und empfahl uns weit außerhalb der Stadt zu parken. Als den katholischen Glauben nicht praktizierende Reisegruppe planten wir, den Prozessionen bestmöglich auszuweichen. Gleichzeitig waren die Wettervorhersagen ungewöhnlich schlecht, statt der Sommerkleider wanderten Pullover und Regenschirm ins Gepäck. Je näher der Abflugtermin rückte und je mehr wir recherchierten, desto mehr mischten sich Zweifel in die Vorfreude.
Mittendrin und nicht dabei.
In der Semana Santa in Städten wie Malaga, Cordoba oder Sevilla unterwegs zu sein und dabei den Prozessionen ausweichen zu wollen, gleicht dem Versuch, nackt ins Meer zu springen und nicht nass werden zu wollen. Die Straßensperren erschwerten unsere Gepäcklogistik deutlich. Dass wegen des Regens die Prozessionen gar nicht stattfanden, nahmen wir anfangs ungerührt zur Kenntnis.
Trotzdem spürten wir an allen Ecken das Besondere, das Einmalige, das Heilige. Die Häuser waren mit roten Tüchern und Palmzweigen geschmückt, die Schaufenster dekoriert, auf größeren Plätzen waren Tribünen aufgebaut, in vielen Straßenzügen Tausende Klappsessel aufgestellt. Überall festlich gekleidete Menschen auf den Straßen und in den Restaurants. Wir wurden neugierig, lasen nochmals genauer nach.
Am Gründonnerstag und Karfreitag hielten wir uns in Sevilla auf, der größten Stadt der Region mit den bedeutendsten und längsten Prozessionen. Wir waren also sowohl örtlich als auch zeitlich mehr als mitten drin und verstanden immer noch nichts. Wir fanden im Appartment einen Prospekt, in dem sämtliche Prozessionen aufgelistet waren, als wäre es ein Busfahrplan mit zig verschiedenen Linien und Stationen. Wir begannen, Videos vergangener Jahre anzusehen. Unsere Begeisterung stieg in gleichem Ausmaß wie unsere Fassungslosigkeit. Spätestens jetzt war es soweit, wir wollten so etwas sehen. Es regnete und regnete.
Beobachtend lernen
Wir versuchten Informationen von Menschen zu erhalten, von denen wir annahmen, dass sie mehr wussten, als wir. Doch die Antworten waren so verwirrend und unklar, dass wir meinten, in einem riesigen Escape-Room gelandet zu sein. Wir wurden zu Plätzen geschickt, wo nichts passierte und unterschiedliche Uhrzeiten genannt. Oft wurde einfach nur ratlos zum Himmel gedeutet, weil sowieso alles vom Wetter abhing. Doch unser Ehrgeiz wuchs stündlich und wir hatten mittlerweile einiges beobachtet: Werden noch mehr Klappsessel aufgestellt, huschen Nazarenos (1) durch die engen Gassen und hört man in der Ferne den Klang von Trommeln und Trompeten, dann könnte eine Prozession stattfinden. Nur wann?
Zwei aus unserer Gruppe waren nach dem Abendessen noch zu einem Spaziergang aufgebrochen, während wir anderen schon bereit waren, schlafen zu gehen. Plötzlich Aufregung in unserer Reise-WhatsApp Gruppe, Live-Standort und Bilder poppten auf. Die beiden waren vor einer Kirchentüre gelandet, wo hunderte Nazarenos hineinströmten, der Platz vor der Kirche füllte sich rasch, um 1:00 Uhr soll hier eine Prozession starten. Wir zogen uns also wieder an, eilten zu mitternächtlicher Stunde zu dieser Kirche, ignorierten Kälte und Müdigkeit.
2 Minuten vor dem prognostizierten Start trat jemand mit ernster Miene vor die Kirche, sprach mit einem der wartenden Fotografen. Die Menge löste sich kommentarlos auf. Die Wetterlage war zu instabil, um diese Prozession, die mehrere Stunden dauern würde, durchzuführen. Niemand wollte riskieren, dass die vergoldeten und extrem wertvollen Pasos (2) nass würden. Doch wieso wussten das nun alle, obwohl niemand laut geschrien oder ein Schild hochgehalten hatte?
Am nächsten Tag hatten wir die einschlägige App am Handy, wo wir dank GPS sehen konnten, wo welche Bruderschaft (3) gerade unterwegs war und erhielten laufend Nachrichten über Absagen oder Streckenänderungen. Doch das half uns nur bedingt weiter. Entweder weil die Übersetzung von GoogleTranslate so schlecht war oder wir es einfach nicht checkten, was da abging. Wir vermuteten zweiteres und setzten unsere Reise fort – nicht ohne Enttäuschung darüber, etwas versäumt zu haben, was wir ursprünglich gar nicht vorgehabt hatten zu sehen.
Erste Reihe fußfrei
Wir landeten in Jerez de la Frontera, einer beschaulichen Kleinstadt im Westen Andalusiens. Wir spazierten in das Stadtzentrum, hungrig auf der Suche nach einem Restaurant. Wir fanden das mittlerweile gewohnte Bild: Mit weinroten Blechplatten abgesperrte Straßen, aufgereihte Klappsessel, festlich gekleidete Menschen. Doch hier waren gerade alle dabei, die Sitzplätze einzunehmen. Es regnete nicht. Aufgeregt wie kleine Kinder positionierten wir uns an der Ecke eines größeren, mit Tribünen gesäumten Platzes.
Die angeregten, heiteren Gespräche rund um uns verstummten unversehens, als ein Glöckchen läutete. Der erste Paso zog direkt vor uns vorbei. Das Gold glänzte in der Abendsonne, wir sahen die Füße der etwa 50 Männer, die den Paso geschultert hatten und unter der Konstruktion hinter schweren Samttüchern nicht sehen konnten, wo sie mit ihren leicht wiegenden Schritten hingingen. Wir hörten die leisen Kommandos der Begleiter, auf die die Männer angewiesen waren, um den tonnenschweren Paso aus der engen Gasse hinaus auf den Platz zu manövrieren. Applaus brandete kurz auf, dann wieder Schweigen. Hinter dem Paso folgten zig Nazarenos mit spitzen Hüten und weiten Umhängen, unter denen nur die Augen hervorlugten, meterhohe Kerzen in der Hand. Etwa hundert Musiker folgten, der Trauermarsch aus Hörnern und Trompeten erfüllte den Platz. Noch ein Paso, noch eine große Gruppe Nazarenos, nochmals hundert Musiker, rhythmisches Trommeln, Weihrauch, Abenddämmerung.
Wir waren ergriffen. Und wir waren uns einig: Es geht nicht darum, es vollinhaltlich zu verstehen. Nicht darum, zu hinterfragen, welchen Sinn das alles machte, was davon Religiosität, was Tradition oder Brauchtum war. Es geht nur darum, zu beobachten und zu staunen. Das Erlebte wertzuschätzen, ohne es zu bewerten.
Im lösungsfokussierten Coaching geht es genau darum. Je mehr ich die Haltung einer Nicht-Wissenden einnehme, desto genauer kann ich zuhören und beobachten. Auf Unterschiede achten, neue Ideen und aufblitzende Lösungen bei meinen Klient*innen heraushören. Wie wenn ich beim geschilderten Problem auf die Suche nach den Trommeln und Trompeten wäre, die die Lösung verkünden.
(1) Nazareno – Büßer mit charakteristischer Spitzhaube und Umhang, der Kopf, Schultern und Gesicht bedeckt und nur die Augen freilässt.
(2) Paso – tischförmige, meist tonnenschwere Konstruktion, die eine Marienstatue oder eine Szene aus dem Kreuzwegs Jesu darstellt.
(3) Bruderschaft – religiöse Vereinigung, die Prozessionen durchführt.